Unter dem Motto «Zeit(Räume)» unternehmen wir im diesjährigen Zyklus mit fachkundigen Expert:innen eine Tour d’Horizon durch die Thurgauer Siedlungs- und Kulturlandschaft. Das Spektrum ist breit: In Frauenfeld spüren wir die Bauten der Thurgauer Architektin Susi Müller-Gehrig (1925–1981) auf, in Schönholzerswilen gehen wir den historischen Wurzeln und aktuellen Fragen rund um die Thurgauer «Kleinsiedlungen» nach, in Pfyn machen wir Halt, um uns ein multiperspektivisches Ortsgeschichte-Museum vorstellen zu lassen. In Romanshorn schliesslich, wo wir uns mit aktuellen Bauprojekten und städtebaulichen Fragen der Hafenstadt auseinandersetzen, endet unsere Tour. Es hat garantiert für jeden Geschmack etwas dabei – lassen wir uns überraschen und erweitern wir unseren Horizont!
Dienstag, 23. Mai 2023, 18.30–19.30 Uhr (Frauenfeld)
Mittwoch, 7. Juni 2023, 18.30–19.30 Uhr (Schönholzerswilen)
Mittwoch, 21. Juni 2023, 18.30–19.30 Uhr (Pfyn)
Donnerstag, 6. Juli 2023, 18.30–19.30 Uhr (Romanshorn)
Der Zyklus wurde von Verena Rothenbühler organisiert.
15. Juni 2022
Die Heilpädagogische Schule Mauren liegt etwas versteckt im Dorf – jemand bemerkte erstaunt, dass nicht einmal ein Wegweiser vorhanden sei. Trotzdem kamen alle angemeldeten Mitglieder rechtzeitig zum Treffpunkt vor der Schule, wo sie von Verena Rothenbühler, der Organisatorin des diesjährigen Zyklus', und den beiden Referentinnen an diesem Abend, Iris Hutter und Miriam Edmunds, erwartet wurden. Die beiden Autorinnen der preisgekrönten Institutionsgeschichte über die Schuel Mure hatten sich bereit erklärt, vor Ort von ihren Erkenntnissen aus dem Buchprojekt zu berichten.
Wie bei anderen gesellschaftlichen Themen erkannte die Thurgauische Gemeinnützige Gesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts auch das Bedürfnis für eine heilpädagogische Schule und schritt zur Tat. Unter dem ersten Hausvater Paul Oberhänsli entwickelte sich ab 1895 durch den Einsatz teils langjähriger Hausmütter und Hausväter mit ihrem Personal eine heilpädagogische Schule, die schnell an Kapazitätsgrenzen stiess, was sich im Lauf der Zeit noch einige Male wiederholen sollte und den richtigen Riecher der Gründerväter für den Bedarf nach einer solchen Bildungseinrichtung bis in die Gegenwart beweist.
Die Referentinnen verwoben Geschichten über das Personal und ehemalige Schülerinnen und Schüler mit Aspekten der Gebäudegeschichte und zeigten, wie sich der erste Bau, der aus der Konkursmasse eines Stickereibetriebs stammte, über verschiedene Ausbau- und Erweiterungsschritte zum heutigen, beeindruckend weitläufigen Areal entwickelte. Wer nach dem Rundgang noch nicht genug erfahren hatte oder erst auf den Geschmack gekommen war, konnte sich gleich vor Ort das Buch über die Geschichte der Schuel Mure kaufen.
22. Juni 2022
Der Abend in Kefikon war ausgebucht, und die Mitglieder wurden sehr zuvorkommend empfangen: Neben dem Schlossherrn, Manfred Meyer-Bach, standen seine Gesamtleiterin, Susanne Ackermann, und die Schulleiterin, Sarah Maij, bereit, um den Zyklusteilnehmerinnen und -teilnehmern ihre Schule zu zeigen. Unterstützt wurde das Team durch unser Mitglied Pius Lang, der in den 1970er Jahren als Lehrer hier gearbeitet hatte und den einen oder anderen Hinweis auf die früheren Verhältnisse geben konnte.
Nachdem Susanne Ackermann einen ersten grossen Bogen zur Schlossgeschichte geschlagen hatte, schlug sie einen weiteren Bogen von den Anfängen der Schule als Landerziehungsheim im Jahr 1906 bis zur Gegenwart. Heute werden von der Schule Schloss Kefikon Kinder und Jugendliche aufgenommen, die unter verschiedenen psychischen Krankheitsbildern wie Traumatisierungen, Bindungsstörungen, Autismus, Suizidalität usw. leiden und ein spezielles schulisches Umfeld benötigen.
Nach der theoretischen Einführung konnten sich die Mitglieder auf zwei Rundgängen ein Bild der Anlage machen: Die eine Runde führte durch den Park und die Schulräume, die andere in die Wohn-, Aufenthalts- und Büroräumlichkeiten im Schloss. Nichts kam zu kurz, denn auch für die Rundgänge galt: das war ein grosszügiger Empfang der Zyklus-Teilnehmenden. Passend dazu gab es zum Schluss einen Apéro im Schlosskeller, bei dem sich die Mitglieder untereinander und mit den Exponenten der Schule austauschen und gleichzeitig Gebäck, Gemüse- oder Fruchtspiessli essen und ein Glas Wein trinken konnten.
29.06.2022
Viele Erfahrungen mit dem Aufenthalt im Welschland kamen an diesem Abend zur Sprache. Zunächst berichtete Verena Rothenbühler aus der Geschichte der Aufenthalte in der Fremde und liess die Frage offen, ob die Aufenthalte an französischen Höfen und jene angehender Textilkaufleute in anderen Handelsstädten als Vorläufer der Welschlandaufenthalte gelten sollen. Engt man das Phänomen ein auf Mädchen, die nach der Schulzeit für eine beschränkte Zeit als Haushälterinnen oder Kindermädchen im Welschland leben und lässt dabei ausser Acht, dass auch welsche Mädchen gleiches in der Deutschschweiz und Deutschschweizerinnen Aufenthalte im Tessin machten, dann zeigt sich, dass nach Anfängen im 19. Jahrhundert für Töchter aus gutem Haus vor allem im 20. Jahrhundert viele Mädchen ins Welschland gingen und dies bis heute tun.
Wie dieses Bildungsgefäss gefüllt wurde, darüber berichteten Ruth Krüsi und ihre Tochter Martina Erni-Krüsi im Gespräch mit Julia Kühni sowie Anna Susanna Keller-Forster und ihre Tochter Anna, indem Ausschnitte aus ihrem Briefwechsel aus der Zeit des Ersten Weltkriegs von Julia Kühni und Verena Rothenbühler vorgetragen wurden.
Die Erfahrungen in der Fremde waren vielfältig und unterschieden sich natürlich auch über die Zeiten, doch bestimmte Themen tauchen immer wieder auf: die einen hatten viel Arbeit und fühlten sich ausgenutzt, andere tauchten ein in ein komplett anderes Leben als Gesellschafterinnen; die einen fühlten sich verloren in der französischen Schweiz und hatten Heimweh, andere genossen die Freiheiten; die meisten dürften gute Sprachkenntnisse mit nach Hause gebracht haben und das Gefühl, gereift zu sein, während die eine oder andere einfach froh war, wieder zu Hause zu sein.
Es war ein vielfältiger Abend und ein gelungener Anlass, bei dem sich die Erfahrungen der Gäste, die schriftlichen Quellen und die Berichte aus dem Publikum gegenseitig ergänzten und so ein vielfältiges Bild dieses weiblichen Bildungserlebnisses vermittelten.
Urban Stäheli
Den vierteiligen Zyklus organisierten Karin Bauer, Verena Rothenbühler und Urban Stäheli.
Ekkharthof, 2. Juni 2021
An diesem schönen Frühsommertag trafen sich 25 Vereinsmitglieder im Ekkharthof in Lengwil. Die Freude am Wiedersehen war den Anwesenden nach der langen, coronabedingten Veranstaltungspause förmlich anzusehen. Begrüsst wurden wir von Klaus Stickl, der viele Jahre im Ekkharthof tätig war und vor kurzem in den Ruhestand getreten ist.
Der 1974 eröffnete und bis heute nach anthroposophischen Grundsätzen geführte Ekkharthof bietet rund 200 Menschen mit Unterstützungsbedarf ein breit gefächertes Angebot an Ausbildungs-, Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Nach den ersten Informationen auf dem grossen Marktplatz nahm Klaus Stickl die Anwesenden mit auf einen kurzweiligen Rundgang durch die weitläufige Anlage mit Wohnheimen, Schule und Therapieräumen, einem Bauernhof und einer Gärtnerei sowie zahlreichen Werkstätten.
Die Gebäude aus der Gründungszeit wurden in den letzten Jahren sorgfältig saniert und strahlen eine helle, freundliche und einladende Atmosphäre aus. Diese Öffnung nach aussen spiegelt sich nicht nur in der Architektur, sondern zeigt sich auch in der Produktion. In den verschiedenen Werkstätten werden innovative und qualitative hochstehende Produkte für den Schweizer Bio-Einzelhandel hergestellt. Das Angebot reicht von Dinkel-Guetzli, über Quittenpästli bis zu Brotaufstrichen aus verschiedenen Naturprodukten. Die nach biologisch-dynamischen Grundsätzen produzierten Milchprodukte, Gemüsesorten, Heil-, Gewürz- und Frischkräuter runden die grosse Produktepalette des Ekkharthofs ab.
Wie Klaus Stickl ausführte, finden vor allem in der Gärtnerei, die seit Anfang der Institution besteht, viele Bewohnerinnen und Bewohner eine attraktive und passende Beschäftigung.
Der anregende und informative Rundgang endete auf der Terrasse der 2020 eröffneten «Cantina», wo die Vereinsmitglieder den Rundblick über den See geniessen konnten und den Abend bei leckeren Brötchen und erfrischenden Getränken ausklingen liessen.
Museum für Archäologie, 9. Juni 2021
Für den kulinarischen Rundgang mit Urs Leuzinger durch das Archäologiemuseum pickte der Museumsleiter gezielt passende Ausstellungsstücke aus der Jungsteinzeit und der Römerzeit heraus und führte davon ausgehend unterhaltsam und souverän durch das Thema Essen in der frühen Menschheitsgeschichte.
Dabei verband Leuzinger die grossen Entwicklungsschritte mit den Dingen des Alltags, die Tücken des Sesshaftwerdens mit der arbeitsteiligen Verarbeitung und Zubereitung von Lebensmitteln. Was die Bewohnerinnen und Bewohner der 4 bis 8 Meter grossen Häuser einer jungsteinzeitlichen Ufersiedlung zu essen bekamen, konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch selber ausprobieren. Auf einem Degustationstisch gab es Felchenfilet auf Vollkornbrot, Haselnüsse, gedörrte Apfelringe und Beeren zu probieren.
Ganz anders sah der Degustationstisch zur Römerzeit aus. Während die Menschen in der Jungsteinzeit getreu dem Motto "Aus der Region, für die Region" assen, konnten die Römer in Eschenz auch Austern verspeisen – das war machbar und wurde gemacht, sofern man es sich leisten konnte. War diese Voraussetzung erfüllt, gab es kaum etwas, was nicht hergeschafft werden konnte – ohne Flugzeuge, Lastwagen und die Eisenbahn notabene. Bei einem Glas Wein aus der Bündner Herrschaft und einem Roggen-Dinkel-Brot mit Moretum-Aufstrich nach einem Rezept von Vergil konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann selber ein wenig wie reiche Römer fühlen.
FrauenArchiv im Staatsarchiv, 16. Juni 2021
Diesen Abend dominierten die Frauen: Verena Rothenbühler, Julia Kühni und Nathalie Kolb präsentierten den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ein paar Happen Kochgeschichte aus dem Thurgauer FrauenArchiv. Kochbücher natürlich, aber auch Bilder von Haushaltungsschulen und Hefte mit Kostenkontrollen für die Haushaltführung zeigen, wie solide die Ausbildung zur Hausfrau seit dem 19. Jahrhundert und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war. Koch- und Ratgeberbücher für die Haushaltführung, wie zum Beispiel "Das fleissige Hausmütterchen", erlebten nicht selten unzählige Auflagen und eine grosse Verbreitung.
Die Archivalien stammen von Frauen, deren Hinterlassenschaften mehr oder weniger zufällig den Weg ins Archiv gefunden haben. Ein Glück, wie sich zeigte, wenn Julia Kühni die Ausgabenkontrolle von Ruth Ammann-Maibach aus Oberaach als Beleg für einen nicht mehr vom Mangel der Kriegsjahre dominierten Menüplan in den 1950er Jahre interpretierte (Stichwort: Fressjahre); oder wenn Verena Rothenbühler die Lust der Männer auf Tabak und jene der Frauen auf Gebäck anhand einer Abrechnung für ein Leichenmahl einer wohlhabenden Witwe nachwies. Im Unterschied zur lückenlosen Ausgabenkontrolle der Frauen musste Nathalie Kolb Lücken in deren Biografien stehen lassen, weil es schlicht und einfach nicht genügend Quellen für eine vollständige Biografie vieler Frauen gibt.
Wie schon an den vorangegangenen Veranstaltungen blieb es auch an diesem Abend nicht bei der theoretischen Beschäftigung mit dem Essen. Im Anschluss an die Präsentation lockten die Organisatorinnen die wie immer interessierte Besucherschar mit einem grossartigen italienischen Apéro weg von den Archivalien und hinaus in den Innenhof des Staatsarchivs.
Vinorama Ermatingen, 22. Juni 2021
Dass es im Thurgau immer wieder Neues zu entdecken gibt, machte den Zyklusbesucherinnen und -besucher der Abend in Ermatingen deutlich. Im lauschigen Innenhof des Vinoramas Ermatingen wurden wir von Karin Peter, Esskulturhistorikerin, und Gérard Seiterle, ehemaliger Präsident der Stiftung Vinorama Ermatingen, begrüsst. Die historische Anlage mit dem Wohnhaus Phönix, der Remise und dem Rosenpark gehörte einst der Familie Ammann, die es mit Weinbau und Weinhandel zu etwas gebracht hatte. 1997 schenkten die Chemikerin Dr. Margit Kobelt und ihre Schwestern der Gemeinde Ermatingen ihren Familienbesitz. Nach ihrem Tod im Jahr 2000 sicherte das respektable Vermögen, das in die gleichzeitig gegründete Stiftung Vinorama Museum Ermatingen floss, den Umbau und die Renovation der Anlage, die in mehreren Etappen von 2002 bis 2011 erfolgte.
Auf dem Rundgang durch das Wohnhaus Phönix, das einer Dauerausstellung zum Thema "Wohnen um 1900" gewidmet ist, gaben Karin Peter und Gérard Seiterle interessante Einblicke in die Restaurierung und Einrichtung des Wohnmuseums. Die einzelnen Zimmer, deren Ausstattung auch mit Hilfe von Fotografien rekonstruiert werden konnte, vermitteln einen lebendigen Eindruck des Familienlebens der Ammanns um 1900. So hätte es uns gar nicht erstaunt, wenn ein Dienstmädchen auf dem Flur vorbeigehuscht wäre oder wenn wir den Patron im Lehnstuhl beim Fenster bei der Zeitungslektüre überrascht hätten.
Im Haus der Familie Ammann wurde jedoch nicht nur gewohnt, sondern auch geschäftet. Im sorgfältig restaurierten Gewölbekeller, in dem heute kulturelle Veranstaltungen und Anlässe stattfinden, wurden früher die Weinfässer fachgerecht gelagert.
Die Remise, die einst als Pferdestall und Wagenunterstand diente, beherbergt das Vinorama, eine Ausstellung rund um die Geschichte des Weinbaus am Bodensee. Karin Peter erzählte den Anwesenden, dass sich im Nachlass der Familie Ammann neben Möbeln auch viele Familiendokumente wie Fotografien, Briefe und Bücher befinden. Darunter auch eine grosse Sammlung von rund 700 historischen Kochbüchern und Rezeptheften, die wie die allermeisten Archivalien noch nicht erschlossen sind.
Nicht bei Habermus und saurem Most, sondern bei einem von der Gemeinde Ermatingen offerierten Apéro mit Käse, Wurst, gedörrten Birnenstücklein und einem spritzigen Glas Elbling beschliessen wir den diesjährigen Zyklus im lauschigen Rosenpark des Vinoramas.
Verena Rothenbühler und Urban Stäheli
Was kochte die Pfahlbauerin am Untersee? Was pflegten die Landvögte auf Schloss Frauenfeld zu speisen und was kam bei den Bauern auf dem Seerücken an Festtagen auf den Tisch? Wie fand der Kaffee den Weg in den Thurgau und wer konnte sich den "Türkentrank" überhaupt leisten?
In drei Gängen versuchen wir herauszufinden, inwiefern das Thurgauer "Wir-Bewusstsein" mit Habermus und Most zusammenhängt. Dazu werden wir mit ausgewiesenen Expertinnen und Experten den historischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Dimensionen des Essens und Trinkens im Thurgau nachspüren. Dieser Zyklus geht garantiert auch durch den Magen – lassen Sie sich überraschen!
Den dreiteiligen Zyklus zur Infrastruktur organisierte Verena Rothenbühler zusammen mit Julia Kühni.
Die Trafotürme von Tobel
Mit Warnhinweisen wird nicht umsonst eindringlich vor dem Betreten von Trafotürmen gewarnt, schliesslich dienen sie der Transformierung und Verteilung von Strom in lebensbedrohlicher Stärke. Julia Kühni und Verena Rothenbühler unterlegten die Besichtigung der beiden stillgelegten Trafotürme von Tobel am ersten Abend des Zyklus‘ mit ihren fachkundigen Ausführungen. Zuerst lotsten sie die 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über eine marode Treppe zu jenem Turm, der seit 1930 auf dem Areal der Komturei steht. Weil seine Aufgabe inzwischen ein moderner Trafocontainer übernommen hat, konnten die Warntafeln getrost ignoriert werden. In diesem Turm gibt es nur noch ungefährliche Reste der elektrotechnischen Infrastruktur, wie zum Beispiel die Drähte, die sich zwischen Trafoturm und Zellentrakt der ehemaligen Strafanstalt spannen. Diese erweisen nun den Vögeln gute Dienste, deshalb werden sie nicht entfernt.
Der andere Trafoturm steht als zweifarbiger Backsteinbau mitten in einer modernen Wohnüberbauung mit Solarpanels an den Balkonbrüstungen und ist für seinen Besitzer Fluch und Segen zugleich. Zwar kostete ihn der Erhalt des Turms beim Bau der Mehrfamilienhäuser zwei Tiefgaragenplätze, dafür bot er ihm die Möglichkeit für ein verstecktes kubanisches Refugium mitten in Tobel. Mit einer gehörigen Portion Stolz präsentierte der Besitzer den Zyklusteilnehmerinnen und -teilnehmern sein Werk.
Zum Abschluss durften sich die Mitglieder in den Garten der Komturei an einen langen Tisch setzen und den Abend bei einem Apéro ausklingen lassen.
Das trockene Reservoir
Nach einem zwanzigminütigen Marsch durch den weitläufigen Romanshorner Wald standen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am zweiten Abend des Zyklus‘ unvermittelt vor diesem Reservoir! Mit seiner einem Schloss nachempfundenen Fassade wirkt es seltsam fremd mitten im Wald. Julia Kühni und Verena Rothenbühler spekulierten über den Grund für diese Fassade, sie vermittelten dem interessierten Publikum aber auch jede Menge fundiertes Wissen über die Entwicklung der Hauswasserversorgung vom Sodbrunnen zum Wasserreservoir, von den Vorbehalten gegenüber dem See als Trinkwasserlieferant und dem Mythos der Reinheit des Quellwassers sowie von den Wasserkorporationen als treibenden Kräften für den Bau von Reservoiren und Wasserleitungen.
Dann war es soweit: Julia Kühni zückte einen langen Schlüssel mit Bart und verteilte mitgebrachte Taschenlampen an all jene, die keine Handylampen hatten. Dramaturgisch eindrucksvoll wuchtete sie die schwere Eisentür auf und machte den Weg frei in die 7 aufeinanderfolgenden Kammern, in denen bis 1980 Seewasser für die Bevölkerung von Romanshorn bereitstand. Kammer um Kammer bewegte sich die Gruppe durch die dunkle, eiskalte Leere bis zur letzten Kammer und zurück. Am Ende war man froh, wieder draussen zu sein.
Heidelbeeren auf dem Abfallkörper
Trotz des Hitzetags kamen 13 Mitglieder zur Führung in die Deponie Kehlhof unterhalb von Berg. Dieter Nägeli, Geschäftsleitungsmitglied des Kehrichtverbands Thurgau, übernahm die Leitung des Abends und informierte zuerst ausführlich über die Geschichte des Abfallwesens von der Römerzeit bis zur Gegenwart.
Bis weit ins 20. Jahrhundert wurde Abfall für weitgehend wertlos gehalten. Deshalb musste er entsorgt werden, wozu sich Bachtobel eigneten, die man mit allem füllte, was nicht mehr zu gebrauchen war. Kehrichtverbrennung gibt es im Thurgau seit 1974, eine differenzierte Sicht auf den Abfall setzte dann in den 1980er Jahren ein, als mit der systematischen Abfalltrennung begonnen wurde. Seither heissen die Grundsätze: vermeiden, vermindern, verwerten, verbrennen.
In der Deponie Kehlhof wurden erste Anstrengungen zur Kontrolle und Steuerung der Deponie in den 1970er Jahren in Angriff genommen, ab 1984 gab es einen Deponiewart. Trotzdem musste die Deponie im Jahr 1989 geschlossen und in den folgenden Jahren von den Trägergemeinden für viel Geld saniert werden. Der Bach, der bereits früher in Betonröhren eingedolt worden war, wurde nun um den Deponiekörper umgeleitet. Danach konnte hier nur noch entsorgen, wer bereit war, eine vergleichsweise hohe Gebühr zu bezahlen. Und das waren nicht mehr Viele.
Auf dem abschliessenden Rundgang über das Gelände zeigte Dieter Nägeli den Teilnehmenden mit Humus eingedeckte Ablageplätze, die wieder der Landwirtschaft übergeben wurden und nun etwa zum Anbau von Heidelbeeren genutzt werden, die Waage, wo die Anlieferungen überwacht und abgerechnet werden, eine Aerobisierungsmaschine zur Belüftung des Abfallkörpers und Verkürzung der Nachsorgedauer sowie den aktuell bewirtschafteten Körperteil, wo mit mineralischen Abfällen aus Baustellen ein künftiger Apfelbaumhain modelliert wird.
In einigen Jahren soll die Deponie geschlossen und nichts mehr sichtbar sein. Bleiben werden die Geschichten von brennenden Reifen, giftigen Abfällen und teuren Sanierungen. Und ein Eintrag im Altlastenkataster.
Urban Stäheli
Im Zyklus wurde nach der Jahresversammlung im Kloster Fischingen die Suche nach Kristallisationspunkten der Erinnerung im Thurgau weitergeführt. Das Jahresthema „Erinnerungsorte“ führte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den drei Veranstaltungen nach Berlingen, Weinfelden und Arbon.
Adolf Dietrichs Thurgauer Bilder
Der geborstene Dampfkessel lag noch im Wasser des Untersees, als Adolf Dietrich die Bilder über die Explosion der „Rheinfall“ an seinem Mal-, Ess-, Empfangs-, Besprechungs- und Jasstisch malte. Der Maler schuf unzählige Erinnerungsbilder, die persönliche Eindrücke, geliebte Menschen und die Landschaft in ihrer kunstvollsten Form zeigen. Der Dietrich-Kenner Willi Tobler zeigte den Mitgliedern des Historischen Vereins anschaulich, wie die Erinnerung in Adolf Dietrichs Werk auf verschiedene Arten eine zentrale Rolle spielte. Dass Dietrichs Grabstein durch Umplatzierung schrittweise selber zum Denkmal wurde und der Garten gegenüber der Malstube anhand von Dietrichs Werk wieder hergestellt wurde, sind Beispiele, wie das Werk des Malers mittlerweile selber zu einem Referenzpunkt für Erinnerung geworden ist.
Weinfelden oder das Verblassen der Erinnerung
Als „le plus misérable village de la Suisse“ soll der französische General Masséna Weinfelden bezeichnet haben. Bürgerarchivar Franz-Xaver Isenring öffnete den Mitgliedern des Historischen Vereins die Augen für die Erinnerungsorte, die Masséna (noch) unbekannt waren. Auf dem Rundgang vom Rathaus zur ehemaligen Haffterschen Eisenhandlung, durch den dahinterliegenden Park mit Kräutergarten, in den „Weinfelder „Staatskeller“ im Haus zum Komitee, bis zur Beggeli-Sprachgrenze an der Frauenfelderstrasse konnte Franz-Xaver Isenring die interessierten Zuhörerinnen und Zuhörer mit Fakten und Anekdoten davon überzeugen, dass in Weinfelden die Erinnerungsorte an die politischen Umbrüche im 19. Jahrhundert gepflegt werden. Die heimliche Hauptstadt des Kantons ist, so das Fazit dieses Abends, alles andere als misérable.
Saurer fährt den Thurgau in die Welt
Beim Treffpunkt am Denkmal, das zum 100-jährigen Bestehen der Firma Saurer im Jahr 1953 von Ernst Heller geschaffen worden war, wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am dritten Abend des Zyklus‘ von Verena Rothenbühler begrüsst. Sie bereitete mit ihren anregenden Ausführungen zum Denkmal das Feld für die kenntnisreichen Ausführungen des Saurer-Kenners Adrian Knoepfli, der die Mitglieder des Vereins ins Saurer-Museum führte. Dort stehen sie, die Saurer-Postautos, Saurer-Lastwagen, Saurer-Feuerwehrautos. Sie, die nun schön in chronologischer Formation neben Saurer-Webmaschinen und Saurer-Gewehren den Besuchern ihre Schnauzen entgegenrecken, sind es, zu denen viele Menschen eine emotionale Beziehung aufbauten. Wie der tüchtige Mechaniker Alfred Rietmann, der gar Heimatgefühle empfand, als er in Vilnius den Dieselmotor eines Saurer-Lastwagens hörte. Obwohl die Firma längst zerstückelt und verstreut wurde, geistert der Name Saurer nach wie vor durch Arbon und die Köpfe der Thurgauerinnen und Thurgau - als Echo der Dieselmotoren.
Verena Rothenbühler, Urban Stäheli
Ohne Belehrungen geht es heute kaum mehr irgendwo ab. Kaum setzt man einen Fuss vor den andern, steht man auch schon vor dem ersten Mahnfinger. Die richtige Haltung bitte! Und dass Sie nicht wissen, wie viele Kubikmeter Wasser sich in der Sekunde über das Wehr stürzten, sollte Sie schon etwas beschämen, mein Herr! Bleibt nur zu hoffen, dass Sie eine Erle von einer Buche zu unterscheiden wissen, hochverehrte Dame! Und die Nagelfluh vom Granit! Oder etwa nicht? Sie schweigen? Ein beredtes Schweigen! Übrigens sollten Sie, wenn sie lange stehen, die Beine leicht spreizen! – Woher kommt dieser Drang der Gebäude, zu sagen: „Ich bin eine Mühle“ oder „Ich bin eine Fabrik“; woher der Drang der Bäume zu sagen: „Ich bin eine Eiche“ oder „Ich bin eine Pappel“? Solchen und anderen Fragen geht der Zyklus nach – ein ernsthaft witziges Unternehmen.
Gärten und Pärke sind ein weites Themenfeld. Da passen wirtschaftliche Aspekte genauso rein wie Argwohn, professionelle Planung genauso wie Fülle, Vielfalt und Freude. Dank engagierten Führern war es möglich, an den vier Veranstaltungsabenden die professionellen Seiten genauso zu sehen wie die ganz persönlichen, subjektiven.
Im Gartengeschäft in Kreuzlingen
Reto Locher versteht das Geschäft mit dem Garten. Er ist als Fachverantwortlicher Chef über 19 Gartenparadiese in der Ostschweiz und dem Tessin. Die Gartenparadiese, wie die Abteilungen in den Bau und Hobby-Filialen von Coop heissen, sind nicht nur bei den kaufwilligen Gärtnern beliebt, sondern auch nützlich für den Konzern. Der erzielte Umsatz ist gross, genauso die Ladenfläche. Aufgeteilt in Warmhaus, Kalthaus und Freiland stehen die Hartware (nicht englisch) und die Pflanzen nicht einfach zufällig, sondern durchaus absichtsvoll drapiert, mit dem Ziel, gekauft zu werden. Dass man sich dafür so einiges einfallen lässt, darüber berichtete Reto Locher offen und ausführlich, so dass jedem klar wurde: im Paradies wird hart gearbeitet.
Im Park in Frauenfeld
Früher fuhren Kinder und Jugendliche mit Velos durch Mulden und über Hügel im Buebewäldli in Frauenfeld. Heute haben sie dafür einen Skaterpark, während aus dem Buebewäldli eine genau geplante und umsichtig umgesetzte Parkanlage wurde: der Murg-Auen-Park. Der Frauenfelder Architekt Thomas Hasler war von Anfang an treibende Kraft hinter dem Projekt. Indem er sich die nötige Unterstützung aus Politik und von Wasser- und Brückenbauingenieuren sicherte, gelang es, innert weniger Jahre einen Ort zu gestalten, wo die Leute hingehen; sei es für das vorabendliche Tai-Chi oder das frühkindliche Sändele am Flussufer, für den Wochenendspaziergang oder zum Grillieren. Angesprochen auf die Zukunft äusserte Thomas Hasler den Wunsch, dass sich die Grünflächen noch weiter durch die Stadt murgaufwärts schieben.
In den Gemüsegärten in Diessenhofen
Bevor die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen mit Verwalter Roland Moresi und Bürgerarchivar Hansueli Ruch durch das Chabisland schlenderten, machten sie einen Kurzbesuch in der industriellen Gemüseproduktion der Firma Grob auf der anderen Strassenseite. Dort wachsen Tomatenpflanzen aus Substraten und werden so arrangiert, dass die Erntehelfer zwischen den Reihen auf Brusthöhe ihre Arbeit verrichten können. Geschäftsführer Armin Gredig vermochte in der kurzen Zeit des Besuchs die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit seinen Ausführungen durchaus zu fesseln.
Der anschliessende Spaziergang durch die Schrebergärten der Bürgergemeinde Diessenhofen führte in eine andere Welt. Hier wächst das Gemüse seit rund 200 Jahren auf mehr oder weniger akkurat gepflegten Ländern neben mehr oder weniger vorschriftsgemässen Hütten. Ärger über die frei interpretierten Vorgaben kann leicht entstehen, wenn auf engstem Raum gegärtnert wird; trotzdem ist auf vielen Pachtländern sichtbar, wie die Bewirtschafter mit grossem Einsatz versuchen, ihr kleines Reich zu pflegen, ihren Gartentraum zu leben.
Im Barockgarten in Märstetten
Um einen Barockgarten zu bauen und zu unterhalten, braucht es eine gehörige Portion Leidenschaft und keine Angst vor dem Jäten. Jürg Trippel merkt man seine Freude an seiner Gartenanlage an, und am Barock. Als Besitzer eines stattlichen Anwesens inmitten von Märstetten setzte er sich vor rund 10 Jahren das Ziel, einen Barockgarten anzulegen. Auf der Rossweid. Dafür steht zwar das Pächterhaus etwas unglücklich und die Ebene verlangt nicht eben nach einer Terrassierung. Doch wer einen Barockgarten will, lässt sich von solchen Nebensächlichkeiten nicht vom Ziel abbringen und macht das beste draus. So konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am letzten Abend des Gartenzyklus diesen wunderbaren Garten mit seinen verschiedenen Teilen, seiner Symbolik, der wohlüberlegten Anordnung und den Kompromissen, die dem Gartenleben geschuldet sind, besichtigen. Leider fiel der geplante Abschluss des Zyklus mit einem Apéro im Barockgarten ins Wasser. Dafür wurden die Besucherinnen und Besucher kurzerhand in die gute Stube des Hausherrn eingeladen.
Urban Stäheli
Güttingen, 27. Mai
Eigentlich war der Abend ja einem Tiefpunkt gewidmet, weil das Kies schliesslich aus der Tiefe herausgehoben werden muss - und dann standen wir doch zuoberst! Die knapp 20 Personen, die sich bei frühsommerlichem Wetter im Hafen von Güttingen versammelten, um den Kiesabbau und -transport auf dem Bodensee kennen zu lernen, wurden von Hansueli Egloff nämlich auf das Sonnendeck der „MS Raiffeisen“, des firmeneigenen Ausflugschiffs, gelotst. Von hier oben liess sich das Areal des Privathafens der Firma E. Müller & Co. AG bestens überblicken: die Flotte der Kiesschiffe „Thurgovia“, „Helvetia“, „Mary“ und „Klipper“, das Brecherhaus und natürlich den alten Kran. Dieser steht breitbeinig auf zwei Schienen, während die Katze in der Höhe hin und her tigert und mit ihrer tonnenschweren Schaufel die Kiesschiffe entlädt und das Kies zur weiteren Verarbeitung herumbugsiert. Dazu berichtete Hansueli Egloff in einem angeregten Gespräch mit den Teilnehmenden vom schweren Stand der Kiesschiffer, von Auflagen und Ausgaben, aber auch von der Hoffnung, dass der Firma mit ihrer fast 100jährigen Geschichte trotz schwierigen Bedingungen noch eine weite Zukunft bleibt.
Sirnach, 24. Juni
Nicht ganz hoch, zum neuen Aussichtsturm oberhalb von Sirnach, mussten die 25 Besucherinnen und Besucher mit ihren Sonnenbrillen und -hüten, weil die Hochwacht in Sirnach eben nicht dort oben gestanden hat. Das machte Andrea Bader ebenso engagiert wie einsichtig klar. Etwas tiefer standen sie also, die Wachhütte für die Wachmannschaft, die Stütze in Galgenform für die Harzpfanne, das Dreibein aus Baumstämmen für das Feuer. Wo heute ein Wohnquartier an erhöhter Lage liegt, war zwischen 1619 und dem 19. Jahrhundert die Hochwacht als Teil eines visuellen Alarmsystems mit akustischer Unterstützung durch Mörser- und Musketengeknalle. Betrieben wurde sie aber natürlich nur in gefährlichen Zeiten.
Andrea Bader konnte aus reichem Wissen schöpfen. Seit über 10 Jahren beschäftigt sie sich mit Hochwachten im Allgemeinen und der Sirnacher Hochwacht im Speziellen. Was als Protest gegen ein Bauprojekt begann, führte zu ausgiebigen Recherchen, die nicht nur das Bauprojekt zu Fall brachten, sondern den Teilnehmenden nun einen vergnüglichen, interessanten und lehrreichen Abend bescherten.
Arenenberg, 30. September
Hoch auf dem Arenenberg reagierten die 20 Besucherinnen und Besucher zunächst etwas perplex, als sie von Barbara Fatzer in die Küche befohlen wurden. Ob Thurgauer Chost ein Hochgenuss oder ein kulinarischer Tiefpunkt sei, das lag nun an ihnen. Sofort begann ein emsiges Treiben. Die einen hobelten Gurken, Rettiche und Tilsiter für die «Lumpensuppe», ein Salat und keine Suppe wie der Namen vermuten lässt. Die anderen kümmerten sich ums Fleisch: «Chachelifleisch», ein apartes Gericht aus Rindsplätzli im gusseisernen Topf geschmort und in der Variante von Zwiebeln und Äpfel begleitet. Eine andere Gruppe schnetzelte buntfarbige Krautstiele, die nach dem Kochen mit Paniermehl bestreut in den Backofen wanderten. Vor dem Essen machte Barbara Fatzer mit der bereits sehr angeregten Schar eine kleine Tour d’Horizont durch die Thurgauer Küche von der Steinzeit bis in die Neuzeit. Das Essen, das auf den Tisch kam, war famos. Und als zur Nachspeise eine «Süssmostcreme Rosemarie» serviert wurde, war es für einen kurzen Moment andächtig still. Dieser Abend war ein Höhepunkt der besonderen Art.
Amriswil, 21. Oktober
Der Veranstaltungsort für den Vortrag des Journalisten Thomas Wunderlin über die sog. Löw-Affäre hätte besser nicht sein können, denn die rund 40 Interessierten sassen im Amriswiler Ortsmuseum inmitten zahlreicher Objekte aus der Hinterlassenschaft der Schuhfabrik Löw. Die Steueraffäre begann im Jahr 1951 mit dem Zugriff der eidg. Steuerverwaltung auf die Räumlichkeiten der Schuhfabrik Löw in Oberaach und schlug mediale und politische Wogen nicht nur im Thurgau, sondern schweizweit.
Mit einer akribischen Chronologie der Ereignisse von der Beschlagnahmung der Steuerakten, über die Reaktionen und Interventionen, bis hin zu den politischen Folgen namentlich für Nationalrat Alfred Müller zeigte Wunderlin, wie sich aus dem vermeintlichen Kavaliersdelikt der Steuerhinterziehung durch Fehleinschätzungen und Überschätzungen letztlich ein Skandal entwickeln konnte, der die Medien und die Gerichte beschäftigte und die Gemüter erhitzte. Dabei zeigte sich auch, dass diese Geschichte reich an Höhe- und Tiefpunkten war, manchmal auch beides gleichzeitig - je nach Perspektive.
Verena Rothenbühler, Urban Stäheli
Dienstag, 6. Mai 2014
Am 6. Mai wurden wir auf dem Parkplatz der Schiessanlage Hau in Weinfelden von Urs Ehrbar, Oberst a. D., in Empfang genommen, der uns zum getarnten Eingang des 1937–1939 erstellten Kommandobunkers der ehemaligen Grenzbrigade 7 führte. Kaum eingetreten, empfing uns eine charakteristische Bunkerkälte. Im Hirn der Anlage, einem kleinen Raum, der militärhistorische Informationen sowie die Porträts sämtlicher 13 Brigadekommandanten versammelt, vermittelte uns Urs Ehrbar einen kurzweiligen Abriss über die schweizerische Landesverteidigung. Die Ahnengalerie hat es in sich: Wer hier porträtiert ist, gehörte zum Thurgauer Filz. Politisch und wirtschaftlich gut vernetzt, schauten Brigadiers wie Franz Josef Harder oder Ernst Mühlemann, dass es ihren Soldaten an nichts mangelte. Der Weinfelder Bunker ist das Zentrum des 1937–1940 erstellten Festungsgürtels auf dem Seerücken. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Anlage weiter ausgebaut und noch in den 1980er-Jahren mit einer AC-Schutzanlage ausgerüstet.
Nach der Einführung machten wir uns mit Urs Ehrbar und Hansjörg Huber auf den Rundgang durch den Bunker, der seinerzeit rund hundert Offizieren und Soldaten Platz bot. Neben Büros, Schlafräumen und einer Küche gehörten zur Infrastruktur auch ein Funkraum und eine Telefonzentrale. In einem separaten Stollen ist der Maschinenraum untergebracht, das Herz des Bunkers, das für die Strom-, Wasser- und Luftversorgung sorgt.
Mit der Armeereform 1995 wurde der Bunker obsolet. 2007 wurde er vom Verein Festungsgürtel Kreuzlingen gekauft, der ihn seither in Schuss hält. Mit einem Glas Bunkerwein, das die ehemaligen Militärs zu allerlei Fachdiskussionen und Anekdoten anregte, liessen wir den interessanten Abend unter Tag ausklingen.
Dienstag, 13. Mai 2014
In eine ganz andere Welt führte uns der zweite Abend am 13. Mai. Von aussen deutet nichts an dem ehemaligen Fabrikgebäude in Salmsach darauf hin, dass sich dahinter die grösste Moschee der Ostschweiz verbirgt. Begrüsst wurden wir von Jetmir Sakiri, dem Sekretär des Dachverbands islamischer Gemeinden der Ostschweiz und des Fürstentums Liechtenstein. Anwesend waren auch Nadzi Emruli, Präsident der albanisch-islamischen Gemeinschaft Salmsach, sowie Tadzedin Misimi, Imam der Moschee. Auf die Führung eingestimmt wurden wir mit zwei Videos, die erklärten, was der Islam ist.
Neugierig begaben wir uns anschliessend auf den Rundgang durch die Moschee. Nachdem alle die Schuhe ausgezogen hatten, führte uns Sakiri in den Waschraum, wo jeder Gläubige die rituelle Waschung vollzieht. Über eine kurze Treppe erreichten wir den grossen, mit dicken Teppichen ausgelegten und ganz in Grün, Weiss und Gold gehaltenen Gebetsraum. Ein Teil davon ist für Frauen abgetrennt. Von der Decke hängen riesige Kristalllüster und an den Wänden stehen in arabischer Kalligraphie die 99 Namen Allahs. Die Gebetsnische, mit bunten Mosaiksteinchen verziert, zeigt nach Südosten, in Richtung Mekka. Sehr schnell entwickelte sich eine angeregte Diskussion über den Islam und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Moslems und Christen. Alle Fragen wurden von Sakiri und Misimi mit grosser Geduld und viel Humor beantwortet. Deutlich wurde auch, dass der Islam zur Identität und Kultur einer unserer Einwanderungsgruppen gehört. Viele Mitglieder der islamisch-albanischen Gemeinschaft Salmsach stammen aus Tetovo in Mazedonien, von denen die ersten bereits in den 1970er-Jahren als Arbeiter in die Ostschweiz gekommen sind. Der herzliche Empfang, die engagierten Diskussionen sowie der offerierte Apéro machten den Besucherinnen und Besuchern deutlich, dass wir hier weniger mit einer Parallelwelt, als vielmehr mit unseren Schwellenängsten konfrontiert waren. Diese konnten wir an diesem Abend aber erfolgreich ablegen.
Dienstag, 20. Mai 2014
Der dritte Abend führte uns am 20. Mai ins Kantonalgefängnis nach Frauenfeld. Im Gegensatz zu den derzeit rund 65 Insassinnen und Insassen, waren die Mitglieder des Historischen Vereins freiwillig nach Frauenfeld gekommen. Nach mindestens zwei schweren Türen mit Eingangscodes wurden wir im kleinen Empfangsraum von Ernst Scheiben, dem Direktor des Gefängnisses, begrüsst. Frauenfeld ist ein relativ kleines Gefängnis. Neben Häftlingen, die eine Freiheits- oder Disziplinarstrafe verbüssen, sind hier auch Ausschaffungs- und Untersuchungshäftlinge untergebracht. Wie Ernst Scheiben erklärte, stösst das Gefängnis derzeit an seine Grenzen. Einerseits werden in Frauenfeld viele kurze Freiheitsstrafen verbüsst, und andererseits beträgt die Wartefrist für andere Strafanstalten zurzeit gut ein Jahr. Im Gefüge des Ostschweizer Strafvollzugskonkordats ist das Gefängnis in Frauenfeld nur ein Baustein: die zu längeren Freiheitsstrafen verurteilten Männer werden in der Zürcher Strafanstalt Pöschwies und in Saxerriet im Kanton St. Gallen untergebracht.
Nach diesen ersten Informationen machten wir uns mit Ernst Scheiben auf den Rundgang durchs Gefängnis. Das grösste Interesse weckte die Zelle. Die rund zehn Quadratmeter grossen und einheitlich möblierten Zellen haben zwar den Charakter eines Schlafzimmers, sind aber wegen den Gitterstäben und den schweren Zellentüren mit Sichtklappe kaum mit einem Hotelzimmer zu verwechseln. Im Sporthof, der von hohen Betonmauern umgeben ist, erzählte Scheiben von der spektakulären Flucht eines Häftlings, der sich im klassischen Stil mit Hilfe zusammengeknüpfter Bettlaken hochangelte und an der Aussenwand abseilte. Obwohl Ausbrüche wie Scheiben erklärte, sehr selten vorkommen, wollte es der Zufall, dass nur gerade zwei Tage nach unserem Besuch zwei Untersuchungshäftlinge aus dem Gefängnis ausbrachen.
Anschliessend besichtigten wir den Arbeitsraum. Ein grosses Problem in einem kleinen Gefängnis ist die Beschäftigung. Gerade Häftlinge, die eine lange Freiheitsstrafe verbüssen, warten deshalb ungeduldig auf die Einweisung in die Strafanstalt Pöschwies, weil dort attraktivere Arbeiten und Ausbildungen angeboten werden. Im Untergeschoss konnten wir auch einen Blick in die Arrestzelle werfen, wo Häftlinge bei einem Disziplinarvergehen eingesperrt werden – sie ist alles andere als gemütlich zu bezeichnen.
Ernst Scheiben hat es uns ermöglicht, dass wir einen Blick hinter die Mauern und in die fremde, nicht ganz geheure Welt des Strafvollzugs werfen konnten. Ein interessanter, aber auch nachdenklicher Schlusspunkt in unserem Zyklus „Parallelwelten“, der, nach den Reaktionen der Besucherinnen und Besuchern zu schliessen, ein voller Erfolg war.
Verena Rothenbühler
Donnerstag, 23. Mai 2013: Hauptwil
Den Reigen eröffnete Ernest Menolfi am 23. Mai in Hauptwil. Bereits seit mehreren Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte des Dorfs (in keinem anderen Ort der Schweiz ist die frühe Industrialisierung im 17. und 18. Jahrhundert so sichtbar geblieben wie hier) und brachte an diesem nasskalten Maiabend sein Erkenntnisse den zahlreich angereisten Vereinsmitgliedern eloquent und humorvoll näher. Nach der Begrüssung im geheizten Turmzimmer beim Schloss Hauptwil führte er uns ins ehemalige Kaufhaus der Familie Gonzenbach. Die Geschichte dieses sorgfältig renovierten und mit wertvollsten Kunstwerken tapezierten Wohnhauses ist nicht genau bekannt. Wie Ernest Menolfi ausführte, wurde hier primär gearbeitet und nicht gewohnt. Während das Dachgeschoss als Kornlager diente, wurde in den unteren Räumen feine Leinwand produziert. Ganz erstaunlich sind Menolfis Erkenntnisse zum sog. ersten Arbeiterhaus der Schweiz. Das Gebäude war kein Wohnhaus, sondern eine Leinwandmanufaktur. Neben den Informationen zur Textilgeschichte durfte ein Exkurs zu den religiösen Irrungen und Wirrungen im Dorf nicht fehlen. Ernest Menolfi hat seine Carte blanche hervorragend genutzt – was wir in Hauptwil gesehen und gehört haben, war sensationell. Obwohl man gerne noch weiter zugehört hätte, labten sich die Geschichtsinteressierten angesichts der Kälte und des Regens ebenso gerne am anschliessenden Umtrunk und der Pizza im Restaurant Löwen.
Mittwoch, 29. Mai 2013: Tägerwilen
Einiges frühlingshafter war es am 29. Mai in Tägerwilen. Peter Giger, der die Ortsgeschichte von Tägerwilen mit einem Historikerteam zusammen erforscht hat, begrüsste uns vor der erhöht gelegenen reformierten Kirche – mit Blick zum Seerücken und zum Tägerwiler Wald. Auf acht und einer halben Statione eröffnete uns Peter Giger interessante Einblicke in das Leben der Dorfgemeinschaft im Mittelalter, die Geschichte der zahlreichen Mühlen, die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und die wechselhafte Grenzgeschichte im Tägermoos. Dass der Ururenkel des umtriebigen Tägerwiler Bürgers und Regierungsrats Johann Konrad Egloff an diesem Abend als Besucher anwesend war, liess die Egloffsche Familiengeschichte auch noch in Fleisch und Blut erstehen. Besonders eindrücklich war der Spaziergang von der Kirche in den alten, am Bach gelegenen Dorfkern Tägerwilens. Nur die wenigsten von uns wussten, dass man abseits der Neubauquartiere und der Hauptstrasse das ursprüngliche Handwerker- und Bauerndorf noch entdecken kann. Allein der Gang durch diese dörfliche Idylle war die Reise wert. So lieblich wie der alte Dorfkern war das Wetter allerdings nicht. So konnten wir den Abend leider nicht im Biergarten ausklingen lassen. Schön war’s alleweil.
Donnerstag, 6. Juni 2013: Zezikon
Definitiv brach der Sommer 2013 am 6. Juni in Zezikon aus. Es war ein prächtiger Abend, an dem nicht nur der Historische Verein, sondern auch sämtliche Landwirte mit ihren Erntemaschinen unterwegs waren. Hans Matthey, Gemeindeammann und ehemaliger Sekundarlehrer, der vor Jahren eine Untersuchung über die von Landwirtschaft, Heimarbeit und Armut geprägte Geschichte Zezikons verfasst hatte, begrüsste uns am Ortseingang. Der Weg führte uns zuerst durch das Dorf mit den alten Mehrzweckbauernhäusern, die in wirtschaftlich guten Zeiten ausgebaut oder aufgestockt wurden, den zwei Wirtschaften, die sich gegenseitig die Kundschaft abjagten und einer Käserei, die in allen Thurgauer Bauerndörfern den (land-)wirtschaftlichen Aufschwung um 1900 markiert. Dass die Bevölkerung Zezikons nicht an Führungen gewohnt ist, zeigte sich an den Stubenvorhängen, die kurz zur Seite geschoben wurde. Eigentlich erstaunlich, denn eine solche Führung in die Tiefen des Thurgaus müsste Pflicht sein. Zu jedem Haus wusste Hans Matthey vieles über alt eingesessene Familien, Konkurse und langjährige Amtsträger zu berichten. Nach dem Weg durch den Rebberg, der heute ein Einfamilienhausquartier ist, erreichten wir den Hof Wildern. Von hier bot sich uns ein wunderbarer Blick über das frühsommerliche Lauchetal und darüber hinweg. Nicht weniger eindrücklich war der abschliessende Besuch bei Frau Füllemann im Restaurant Biene in Maltbach, wo wir diesen prächtigen Abend bei einem Saft und einem kalten Plättli ausklingen liessen.
Donnerstag, 13. Juni 2013: Gachnang
Das Wetter war dem Historischen Verein auch am letzten Zyklusabend vom 13. Juni in Gachnang hold. Hier wurden wir von Pfarrer Christian Herrmann begrüsst, der sein Pfarrdorf wie kein anderer kennt. Nach einem kurzen Gang zum Friedhof, auf dem wir allerlei über die bis in die jüngste Zeit andauernden Querelen zwischen Katholiken und Protestanten erfuhren, konnten wir es uns in der Kirche bequem machen. Christian Herrmann, der nicht Pfarrer, sondern auch ein begeisterter Archäologe und Ägyptologe ist, machte uns mit den komplizierten und wechselhaften Verhältnissen der Kirchengeschichte bekannt. Mit seinem Predigertalent gelang es ihm mühelos, die doch recht trockenen Fakten wie einen Krimi zu präsentieren. Leicht unterkühlt, konnten wir uns auf dem anschliessenden Gang zur Schlosskapelle aufwärmen. Gerne hätte man auch noch etwas mehr über die grosse Überbauung erfahren, die in nächster Zeit auf dem Areal der ehemaligen Mosterei Gachnang aus dem Boden gestampft wird. Doch die Zeit lief ab. Zu unserer Überraschung lud uns Christian Herrmann in seinen Partykeller im Pfarrhaus zu einem reichhaltigen Apéro ein, der von der evangelischen Kirchgemeinde gesponsert wurde. Beinahe etwas beschämt ob dieser Grosszügigkeit, liessen wir uns dann jedoch die vom Dorfmetzger gelieferten köstlichen kalten Platten und den ausgezeichneten Wein munden.
Verena Rothenbühler
Dienstag, 15. Mai 2012: Münchwilen
Denkbar wäre ein lauschiger Maiabend im wunderbaren Park hinter dem ehemaligen Marienheim in Münchwilen gewesen. Stattdessen jagten Wolken über die Szene und fuhr der Wind in die Baumkronen und die Ohren der Teilnehmenden. Doch brachten die Nebengeräusche die Referentin, Verena Rothenbühler, keinen Moment aus dem Konzept: denn erstens war sie, nach ausgedehnten Archivstudien in Menzingen und andernorts, hervorragend vorbereitet, und zweitens legte sie einfach ein paar Dezibel zu, wenn die Störungen des Himmels, der offenbar doch einiges daran setzte, nicht alle Informationen so mir nichts dir nichts durch den Äther zu lassen, etwas gar arg wurden. – Das von Menzinger Schwestern zwischen 1916 und 1963 im Auftrag der Tüllindustrie St. Margarethen geführte Mädchenheim in Münchwilen beherbergte phasenweise über hundert junge, vorwiegend aus Norditalien stammende Fabrikarbeiterinnen und wurde nach klösterlichen Prinzipien geführt. Bete und arbeite. Punktum. Schmaler Lohn, schmale Kost, schmale Freizeit. Auf dass zuerst die Fabrik davon profitiere, dann die Kirche und zuletzt die späteren Ehemänner! Denn wo nicht in St. Margarethen zehn Stunden am Tag für Fr. 2.90 gespult oder nachgestickt, wurde in der Heimkapelle gebetet und die Messe gefeiert, und dann gekocht, genäht, gestrickt, geflickt. In Kontakt mit Einheimischen kamen die Mädchen so gut wie nie, mit jungen Männern schon gar nicht. Das wäre noch gewesen! Dafür durften sie in Dreierkolonne und uniformiert zweimal täglich in die „Tülli“ und zurück marschieren und dabei den Rosenkranz beten; denn ein Gespräch mit den Kameradinnen rechts und links hätte womöglich nur dazu geführt, gemeinsam von einem besseren Leben zu träumen. Und solche Träume sind gefährlich. Das alles wurde jahrzehntelang durchgehalten, bis Anfang der 1960er-Jahre ein paar sehr bescheidene und vorsichtig formulierte Anliegen der Mädchen zu einem schroffen Nein aus Menzingen führten, das System dann aber doch schnell zum Kollabieren brachten. 1963 war Schluss. – Leider konnte man das Marienheim, in dem sich heute Eigentumswohnungen befinden, nicht von innen besichtigen. Dafür gab es einen kleinen Spaziergang Richtung St. Margarethen und zurück – vorbei an der katholischen Kirche, wo die Referentin noch die Rolle der im Marienheim tätigen Priester beleuchtete. – Denkbar wäre an dem Abend auch ein Ausklang in einer lauschigen Gartenwirtschaft gewesen. Doch ging man dann lieber nach Hause: die Ohren und die Füsse aufzuwärmen …
Donnerstag, 24. Mai 2012: Weinfelden
… um eine gute Woche später in Weinfelden wieder fit anzutreten. Warum es dort nicht mehr nur ihrer 25, sondern ihrer 37 waren, die sich der Referentin an die Lippen zu hängen gedachten? Offenbar hatte sich herumgesprochen, dass trotz Wind und Wetter etwas zu erfahren ist beim Historischen Verein. Und so war es denn auch. Abgesehen davon, dass man das ehemalige Martaheim nun nicht bloss von aussen beaugapfeln, sondern auch im Innern begehen durfte, weil der Kanton dort mittlerweile sein Bildungszentrum für Gesundheit eingerichtet und das Gebäude sorgfältig restauriert hatte. So konnte man sich vom Alltagsleben der seinerzeit dort lebenden Mädchen doch wenigstens ansatzweise eine räumliche Vorstellung machen, z. B. vom Schlafsaal, wo Bett an Bett gestanden haben muss. Doch kaum hatte man das Gebäude wieder verlassen, war auch er, der Jahresbegleiter des Historischen Vereins, wieder zur Stelle: der Wolkenbruch. Gerade konnte man sich noch unter einen Unterstand beim nahen Berufsbildungszentrum flüchten, wo die Referentin unter Aufbietung all ihrer Künste versuchte, den an sich vorgesehen gewesenen Gang durch das Quartier wenigstens vor dem geistigen Auge ablaufen zu lassen und mit Informationen über Mädchenheime in Bürglen und Arbon und anderswo zu ergänzen. Doch kroch die Kälte den Leuten dann eben doch langsam, aber sicher die Beine hoch, so dass man letztere am Schluss der Veranstaltung hurtig über die vielen Gunten zum Bahnhof oder zu ihrem Wagen springen sah, dass es eine Freude war. Wetter hin, Wetter her: Kaum jemand dürfte das Gefühl mit nach Hause genommen haben, das eigentlich ins Wasser gefallene Thema sei nicht relevant und interessant gewesen und bedürfte nicht dringend der weiteren Aufarbeitung. Vielleicht, dass Verena Rothenbühler gelegentlich einen Aufsatz in den Thurgauer Beiträgen nachschiebt? – Die Thurgauer Zeitung berichtete am 26. Mai 2012 ausführlich und mit Bild über den Anlass.
Dienstag, 5. Juni 2012: Frauenfeld, Staatsarchiv
Am dritten Abend zeigten die Veranstalter des Zyklus’, der Historische Verein und die Società Dante Alighieri Turgovia, im Seminarraum des Staatsarchivs den berührenden Dokumentarfilm von Werner Weick „Ragazze di convitto“. Da die Originalfassung mit französischen Untertiteln zur Aufführung kam, hatte Marco Molteni ein Handout vorbereitet, in dem der des Italienischen Unkundige auf Deutsch mitlesen konnte. Wie die ehemaligen Bewohnerinnen der Mädchenheime von ihrem Leben dort und von ihrer Arbeit in den Fabriken berichteten – es war schlicht umwerfend: mit welcher Distanz, mit welchem Witz, mit welchem Stolz auch auf die eigenen Leistungen, wunderbar! Im Anschluss an die Vorführung diskutierten die seinerzeit am Film mitbeteiligt gewesene Tessiner Historikerin Yvonne Pesenti und der aus einer Glarner Fabrikantenfamilie stammende ehemalige Direktor des Bundesamts für Kultur, David Streiff, mit Marco Molteni über verschiedene Fragen des seinerzeitigen Umgangs mit den jungen italienischen Arbeitskräften, aber auch – und das machte den Abend zusätzlich spannend – über den sich über die Zeit verändernden Umgang mit der Geschichte. Wobei im einen Fall Streiff, im andern Pesenti Musterbeispiele selbstkritischer Reflexion lieferten. So war es nicht verwunderlich, dass die anschliessende Fragerunde vom Publikum eifrig benutzt wurde und die Anwesenden auch in den Genuss verschiedener individueller Erinnerungen an frühere Verhältnisse im Arbeitsleben kamen, bevor die Gespräche während des Apéros, der den Zyklus beschloss, munter weiter gingen.
André Salathé
Die Thur prägte die Thurgauer Geschichte als Quelle der Energie und der Gefahr, wie eine Führung des Historischen Vereins des Kantons Thurgau in Schönenberg und an der Rorerbrücke zeigte.
Dass man an der Thur nicht nur Würste braten kann, sondern es rund um den Fluss auch interessante technische, volkswirtschaftliche und historische Aspekte zu beobachten gibt, wurde den Mitgliedern des Historischen Vereins des Kantons beim diesjährigen Zyklus unter dem Thema «Ach, die Thur!», am 25. Mai in Schönenberg und am 22. Juni bei der Rorerbrücke in Frauenfeld vor Augen geführt. Am ersten Abend stand der Besuch der Kraftzentrale der ehemaligen Seidenweberei in Schönenberg und die Besichtigung des erst kürzlich in Betrieb genommenen Flusskraftwerks Thurfeld auf dem Programm. Die Denkmalpflegerin Monika Zutter und Hansruedi Neukomm vom Verein Kraftzentrale Schönenberg, führten die rund zwanzig teilnehmenden Vereinsmitglieder durch das Kernstück der Seidenweberei, die historische Kraftzentrale. Die Wasserkraft der Thur, lange die einzige Energiequelle für die 1862 gegründete Seidenstoffweberei, wurde ursprünglich mittels Transmissionsriemen vom Kraftwerk direkt auf die 390 mechanischen Webstühle übertragen. Auf kleinstem Raum sind hier gewichtige Zeugen der frühen Energieerzeugung zu sehen: Turbinenräder mit Generatoren, ein Dampfkessel mit Hochkamin, Diesel- und Elektromotoren, Schaltwände und ein Stromspeicherraum. In Schönenberg wird bis heute Strom produziert, jedoch nicht mehr in der ehemaligen Seidenweberei, sondern seit Mai 2011 im Kraftwerk Thurfeld. Dieses Wasserkraftwerk, so führte Geschäftsführer Kaspar Böhi aus, basiert auf der neusten Technologie, bei der die Turbinen nicht stehend, sondern liegend installiert wurden. Unter dem Eindruck der jüngsten Atomkatastrophe hat dieses Wasserkraftwerk der neusten Generation wohl eine glänzende Zukunft vor sich.
Der zweite Abend stand im Zeichen des Wasserbaus – aus technischer und historischer Perspektive. Der Spaziergang rund um die Rorerbrücke, wo die Vergangenheit und Gegenwart des Wasserbaus sozusagen fliessend ineinander übergehen, bot für die beiden Experten, Marco Baumann vom Amt für Umwelt und Daniel Speich, Historiker und Professor an der Universität Luzern, konkrete Bezugspunkte für ihre Ausführungen. Entgegen einer verbreiteten Annahme spielt die Oberflächenversiegelung im Einzugsbereich der Thur laut Baumann für die Entstehung von Überschwemmungen eine geringe Rolle, insbesondere im Verhältnis zu den ebenfalls nicht-porösen Oberflächen des Alpsteins.Viel stärker ins Gewicht fallen die Drainagen der unbebauten Gebiete.
Verena Rothenbühler
Über das konfessionelle Zusammenleben im Thurgau wissen die älteren Jahrgänge noch allerhand Geschichten zu erzählen. Und sie taten es im Rahmen des traditionellen Zyklus denn auch immer wieder.
Der Zyklus war dieses Mal dreiteilig:
Mittwoch, 2. Juni 2010: Sirnach
Versammelt wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Gemeindezentrum der Freien Evangelischen Gemeinde Sirnach an der Winterthurerstrasse 22, wo Verena Rothenbühler gegen das nass-kalte Wetter antrat und sonnig-fröhlich in das Thema des Zyklus’ einführte.
Dann stellte Pastor Beat Oswald die FEG Sirnach vor, die ein respektabel grosses Einzugsgebiet aufweist, aber durchaus mit Problemen zu kämpfen hat, die auch die Landeskirchen kennen. Und jedenfalls ist es nicht mehr einfach gottgegeben, dass ihre Veranstaltungen und Gottesdienste konstant Zulauf haben, sondern auch bei den Freikirchen gibt es einen Markt sich konkurrierender Gemeinden – dieser und anderer Denominationen. Dass die Gotteshäuser der Freien Evangelischen Gemeinden oft an stark frequentierten Verkehrsachsen liegen und eher selten im Kern einer Ortschaft, hängt damit zusammen, dass die finanziell eher schlecht gestellten Gemeinschaften anfangs in günstig erworbenen ehemaligen Gewerbebauten zusammenkamen; erst nach und nach erwuchsen daraus jene markanten Gebäudekomplexe, als die sie sich heute präsentieren. Dabei nahm der Versammlungsraum immer mehr kirchenähnliche Züge an, während die Gebäude sonst eher an Schulhäuser mit Gruppenräumen ohne Zahl erinnern.
Sirnach ist einer jener Orte im Thurgau, wo bei der Auflösung des paritätischen Verhältnisses in den 1930er-Jahren die Katholiken den althergebrachten Kultort zu behaupten vermochten, während die Reformierten abziehen mussten, jedoch oberhalb des Dorfes an unübersehbarer Stelle eine neue Kirche (Weideli und Eberli, Kreuzlingen) errichteten. Interessant ist nun, dass die Katholiken auf die neue Sachlichkeit der Evang. Kirche bei der Renovation ihres Gotteshauses mit einer geradezu protestantisch wirkenden Kargheit antworteten – und jedenfalls ist es frappant, wie ähnlich sich die beiden Gotteshäuser heute in vielem sind. Vielleicht war die bisherige paritätische Kirche dafür auch geradezu prädestiniert, war sie doch eines jener ganz wenigen Gotteshäuser gewesen, die sogar als paritätische Kirche neu gebaut worden waren (Johann Joachim Brenner, Frauenfeld, 1873/74). Behindert durch Regengüsse und verschlossene Türen zeigte Denkmalpflegerin Bettina Hedinger diese und weitere Zusammenhänge auf.
Der Landschaftsarchitekt Martin Klauser führte sodann über die beiden Friedhöfe und überraschte die Teilnehmenden zunächst mit dem Hinweis, dass das Missionskreuz des unteren Sirnacher Friedhofs genau auf der Achse steht, die von der Mitte der Zugangstreppe zur katholischen Kirche zum Turm der evangelischen Kirche führt – als ob es etwas abzuwehren gäbe. Schon etwas mehr als frappiert waren die Anwesenden, als Klauser in Erinnerung rief, dass die Friedhöfe aus der Sicht der Kirchen Kultur- und Kultorte seien, während sie aus dem Blickwinkel der seit der Bundesverfassung von 1874 an sich allein zuständigen kommunalen Behörden nichts anderes als Entsorgungsstätten seien. Da schluckte zwar manch einer einmal kurz leer, dass Klauser recht hatte, wurde im Verlauf der weiteren Führung jedoch Schritt für Schritt klar: Dass seit dem Gesundheitsgesetz von 1985 nicht mehr die Erdbestattung die Regel ist, sondern die Kremation, hatte auch auf das Sirnacher Bestattungswesen sichtbare Auswirkungen. Zwar gibt es hier immer noch zwei Friedhöfe, den „unteren“ und den „oberen“ – wobei der untere faktisch katholisch, der obere eher nur protestantisch ist –, doch sind auf beiden Friedhöfen die Urnengräber und die Gemeinschaftsurnengräber klar im Vormarsch. Dass selbst das Sirnacher Priestergrab vom Gotteshaus relativ weit entfernt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Gemeinschaftsgrab neu angelegt wurde, ist bemerkenswert – und zeigt vielleicht mehr als anderes, dass in dieser Kirche Bewegung ist. Umgekehrt gibt es auf dem oberen Friedhof eine Urnenwand, die recht „unprotestantisch“ in die Rückwand der Kirche eingelassen ist. So darf man feststellen, dass sich die althergebrachten, durchaus unterschiedlichen Bestattungsformen und -bräuche der beiden Konfessionen in jüngster Zeit unter staatlichem Einfluss mehr und mehr annäherten, ja vermischten.
Mittwoch, 16. Juni 2010: Bussnang
In Bussnang, wo man sich am Tag des 1 : 0-Siegs der Schweizer Jungs über die Spanier versammelte, springt die Entwicklung, die das schon erwähnte Gesundheitsgesetz von 1985 ausgelöst hat, recht eigentlich ins Auge. Hier war mit dem Neubau der katholischen Kirche in den 1930er-Jahren auch ein katholischer Friedhof angelegt worden; er stiess unmittelbar an den bisherigen paritätischen und nunmehr protestantischen Friedhof an – immerhin durch eine Mauer getrennt. Während die Toten ab den 1930er-Jahren also zunehmend auseinander zu liegen kamen, bettet man sie seit den frühen 1990er-Jahren, als die Mauer teilweise abgebrochen wurde, unter kommunalem Einfluss wieder zusammen: auf einem Erdbestattungsfeld mit uniformen Grabsteinen, auf einem Einzelurnenfeld mit uniformen Grabkreuzen, in Reihenurnengräbern mit uniformen Namentafeln und in einem Gemeinschaftsgrab, wo die Asche zusammengeschüttet wird – in einer Art „Badewanne“, wie sich ein katholischer Pfarrer, der an den drei Führungen teilnahm, ausdrückte. Wie schon in Sirnach wies Martin Klauser mit Geschick auf verschiedene Details hin und öffnete damit die Augen für fundamentale gesellschaftliche Prozesse, die sich in ihnen spiegeln. Spätestens beim Anblick dessen, was sich dem katholischen Priestergrab gegenüber befindet, wurde den Teilnehmenden auf eine heitere Weise klar, dass Klauser mit seiner These von der Entsorgungsfunktion des Friedhofs eben doch recht hat.
Die Kunsthistorikerin und Fussballexpertin Cornelia Stäheli ihrerseits zeigte zuerst die ehemalige paritätische und jetzige evangelische Kirche, die ihrer Ansicht nach in jüngster Zeit immer mehr museale Züge verpasst bekam – was man besonders im Chor sehen kann, wo sowohl das katholische Sakramentshäuschen wiederhergestellt als auch Epitaphe angebracht wurden. Auch schon museal ist – dieser Seitenhieb kann sich der Berichterstatter nicht verkneifen – die furchtbare Deckenbeleuchtung aus der Zeit, als in den Illustrierten noch ganzseitig für Wohnwände geworben wurde. Dass in den 1930er-Jahren im Bauernort Bussnang diese und keine andere katholische Kirche errichtet wurde, ist erklärungsbedürftig. Unbestritten – mit Leonhard Rubischum war eine starke Pfarrerpersönlichkeit da. Aber das Bauwerk war auch Teil jener zweiten von drei Kirchenbauwellen, die der dank wirtschaftlichem Erfolg und ausländischer Zuwanderung erstarkte Schweizer Katholizismus in der 1900er-, 1930er- und 1960er-Jahren verwirklichte. Dass sich die Katholische Kirche jener Mittel bediente, die die von ihr verteufelte und bekämpfte Moderne hervorbrachte – hier in Bussnang steht ein eindrückliches Beispiel. Übrigens nicht zufällig gleich prominent placiert wie die evangelische Kirche. Dass im Inneren der Kirche die Modernisierung der Liturgie im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils dann eher zu Verunklärungen geführt hat, gehört wohl zur Ironie der Geschichte.
Wie schon in Sirnach verband die durch den Sieg der Schweizer Jungs merklich aus dem Häuschen geratene Verena Rothenbühler virtuos, was Stäheli und Klauser dargelegt hatten, so dass man belehrt und unterhalten abzog.
Mittwoch, 30. Juni 2010: Amriswil
Nicht ganz gleich, aber in vielem ähnlich liegen die Dinge in Amriswil, wo Verena Rothenbühler, am spielfreien Abend vom Druck der WM befreit, einleitend auf die schier unermessliche Vielfalt auf den Thurgauer Friedhöfen hinwies.
Zunächst führte Martin Klauser über den ursprünglich zwar von den Reformierten angelegten, relativ früh dann aber kommunal geprägten Friedhof bei der evangelischen Kirche. Das anfängliche Quadrat, das von der Kirche durch eine Mauer getrennt war (und ist), wurde im Lauf der Zeit mehrmals erweitert. Für thurgauische Verhältnisse bedeutend ist das Kolumbarium aus dem Jahr 1938, jene das Gelände terrassierende Arkade mit Nischen für Urnen. Das regionale Vorbild dafür befindet sich auf dem Friedhof Feldli in St. Gallen, in unmittelbarer Nachbarschaft zum dortigen Krematorium. Während Klauser zunächst die Geschichte der Kremation rekapitulierte, wies er die Zuhörerschaft anschliessend vor einer später realisierten Urnenwand darauf hin, dass die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft solche neueren Formen der Bestattung offenbar bereits wieder unattraktiv mache; auch bei uns seien die Kremationen jedenfalls wieder rückläufig.
Die von August Hardegger in neugotischem Stil realisierte evangelische Kirche Amriswil kennt im Thurgau fast jedermann. Wie es dazu kam, dass Ende des 19. Jahrhunderts die kleine alte Kirche am Markplatz durch dieses imposante Gebäude ersetzt wurde, erklärte Bettina Hedinger. Die Industrialisierung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Amriswil zu einem Textilort ersten Ranges machte (Laib, Sallmann, Hess, Tuchschmid u. a.) liess die Bevölkerung sprunghaft anwachsen. Allerdings nicht nur die reformierte, sondern – namentlich durch italienische Immigration – nach und nach auch die katholische. So wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein katholischer Kirchenbauverein gegründet, der 1911 an der Alleestrasse eine katholische Notkirche (Curiel und Moser, Zürich) errichten liess, die heute noch steht und aus konfessionsgeschichtlicher Sicht als besonders schützenswert erscheint. 1937 wurde in unmittelbarer Nachbarschaft dann die neue katholische Kirche (Paul Büchi, Amriswil) eingeweiht – wie die Kirche in Bussnang ein herausragender Zeuge der zweiten katholischen Kirchenbauwelle in der Schweiz. Die von Bettina Hedinger etwas (zu) zaghaft vorgebrachte These, die Reformierten hätten bei der Umgestaltung des Innern ihrer Kirche im Jahr 1938 das Innere der eben in Betrieb genommenen katholischen Kirche kopiert, kann der Berichterstatter nur unterstützen. Vielleicht waren die 1930er-Jahre sogar der Kulminationspunkt mit dem Kulturkampf ab 1870 eine besondere Qualität gewinnenden konfessionellen Auseinandersetzungen im Thurgau: Kulminationspunkt in dem Sinne, dass die reformierte Kirche die Modernität der (den Modernismus an sich ja ablehnenden) katholischen Kirche zu kopieren beginnt – bevor das ganze Konkurrenzverhältnis in den 1960er-Jahren erodieren sollte.
Wie dem auch sei, anregend war der Zyklus allemal. Dank den drei gut ausgewählten Beispielen Sirnach, Bussnang und Amriswil; dank der frischen und teilweise mutigen Art, wie Verena Rothenbühler, Martin Klauser, Cornelia Stäheli, Beat Oswald und Bettina Hedinger ihre Sache vortrugen und dank der Diskussionsfreudigkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nicht wenig dazu beitrugen, dass der Zyklus allgemein als gelungen taxiert wurde. Die Zyklen des Historischen Vereins erheben ja nicht den Anspruch, hinten und vorne gesichertes Wissen zu vermitteln, sondern Geschichte als ein Feld von Fragen zu präsentieren, die es zunächst einmal zu formulieren gilt.
Die drei Veranstaltungen des Zyklus’ 2009 fanden in der Grenzstadt Kreuzlingen statt. In den eineinhalb- bis zweistündigen Führungen erfuhren die Besucherinnen und Besucher einiges über den Grenzwachtposten Kreuzlingen-Autobahn, die Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen sowie die Stadtentwicklung von Kreuzlingen.
In der ersten Veranstaltung bot Postenchef Martin Kehl den Mitgliedern zusammen mit zwei seiner Kollegen einen abwechslungsreichen Besuch bei der Grenzwache. Während die Aufgaben des Zolls nur gestreift wurden, zeigte Kehl den Besucherinnen und Besuchern die Arbeitswelt der Grenzwächter auf dem Grenzübergang ausführlich. Anhand von Büroräumen, Arrestzellen, Verhörzimmer und Werkstatt erhielt die Gruppe zunächst einen Eindruck von den räumlichen Verhältnissen auf dem Grenzwachtposten. Mit Hilfe eines geschulten Grenzwächters und technischer Unterstützung war es dann auch den Teilnehmenden möglich, einfache Passfälschungen aufzudecken. Und schliesslich demonstrierte ein Hundeführer, welch faszinierende Leistung ein eigens geschulter Hund bei der Suche nach Drogen erbringt.
Arnulf Moser, Historiker aus Konstanz, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Grenze zwischen Konstanz und Kreuzlingen. Auf seiner Führung verband er sein profundes Wissen eindrücklich mit Hinweisen auf Details und Örtlichkeiten: Eine kaum sichtbare Schweissnaht verrät die Aufstockung des Grenzzauns zu Kriegszeiten, Kamera und Patrouillenwege zeigen Hilfsmittel zur Grenzüberwachung zu verschiedenen Zeiten und der schräge Grenzverlauf am Hauptzoll hat seinen Ursprung in Umbauten an den Zollgebäuden. Mit grosser Detail- und Sachkenntnis berichtete Moser vom verhängnisvollen Pech des Hitler-Attentäters Georg Elser auf der Flucht in die Schweiz. Dass die Grenze auch in Friedenszeiten von sich reden macht, zeigt die neu erstellte Kunstgrenze, wo die Führung noch vor dem nahenden Gewitterregen abgeschlossen werden konnte.
Als Wahlkreuzlinger, alt Stadtammann und Historiker konnte Josef Bieri bei seiner Führung aus dem Vollen schöpfen. Ausgehend vom Bahnhof führte der Umgang durch das sommerliche Kreuzlingen unter anderem vorbei an Fabrikgebäuden ehemaliger Vorzeigeindustrien, zahlreichen Baustellen und rarer werdenden Brachen, dem geplanten Boulevard und dem im Entstehen begriffenen Shoppingcenter, an preisgekrönten Schulbauten und dem Begegnungsplatz beim Hafen. Die Besucherinnen und Besucher hörten von den oft langwierigen politischen Auseinandersetzungen um die Realisierung von Bauprojekten, von innovativen städtebaulichen Ideen und Gestaltungskonzepten, aber auch von bislang erst auf dem Papier bestehenden Plänen.
Rund zwei Dutzend Vereinsmitglieder wanderten an drei Mittwochabenden unter kompetenter Leitung quer durch die Ostschweizer Eisenbahngeschichte und Bahnhofkultur.
Mittwoch, 9. April 2008: Nach einer nachmittäglichen Betriebsführung in der Firma Stadler Rail in Bussnang, welche die halbe Welt mit thurgauischen Spitzenprodukten der Bahntechnologie beliefert, standen am Abend die Bahnhofanlagen von Bürglen und Oberaach auf dem Besichtigungsprogramm. In Bürglen, an der 1855 eröffneten Thurtallinie, liess die NOB durch Friedrich Seitz 1866/67 ein giebelständig zu den Gelei-sen stehendes Aufnahmegebäude mit Wartsaalanbau errichten, das bei allen Umnutzungen und trotz den Erweiterungsbauten im Westteil der Bahnhofsanlage noch heute den ursprünglichen Gestaltungswillen des Bauherrn erkennen lässt. Ganz anders ist die Entwicklung in Oberaach verlaufen. Die NOB verweigerte der Gemeinde einen eigenen Bahnhof. Erst 1907, Jahre nach der Verstaatlichung der privaten Eisenbahngesell-schaften, erhielt Oberaach ein stattliches Aufnahmegebäude mit Sichtfachwerk und Walmdach im behäbigen Heimatstil. In zahlreichen Umbauten wurde dieses stattliche Gebäude darauf sukzessive all seiner architektonischen Zierden beraubt und steht heute – nach einer Verschiebung der Perrons um ca. 600 Meter ostwärts – heruntergekommen und nutzlos neben den Geleisen.
Mittwoch, 4. April 2008: Bahnhofanlagen von Weinfelden und Kehlhof. Architekt des kleinstädtisch wirkenden Weinfelder Bahnhofs war Jakob Friedrich Wanner, der zuvor schon die Bahnhöfe von Winterthur und Zürich entworfen hatte. Auch als Weinfelden 1911 durch die Eröffnung der Mittel-Thurgau-Bahn zum regionalen Knotenpunkt avancierte, vermochte das in seiner klaren Formensprache überzeugende Gebäude den gesteigerten Ansprüchen zu genügen. Erst 1970/71 erfolgte ein Erweite-rungsbau (WC-/Dienstgebäude) durch den Pionier des modernen Bahnhofbaus Max Vogt. Der Rohbetonbau wurde in der Zwischenzeit nicht zu seinem Vorteil mit allerlei An- und Umbauten verändert, und die WC-Anlage ist im Zeichen von Serviceabbau der SBB und Vandalismus (letzteres Phänomen folgt in der Regel dem erstgenannten auf dem Fuss) nach 18 Uhr verriegelt. Dafür riecht’s dann in den schönen neuen Unterführungen wie im Pissoir. Der insgesamt noch gut erhaltene Bahnhof Kehlhof ist ein typischer Vertreter der rustikalen Kleinbahnhöfe der MThB zwischen Wil und Kreuzlingen. Der funktionsgerechte Zweckbau musste seinerzeit noch gewissen Ansprüchen von Geschmack und Stil genügen, was von den beiden Quasi-Villen im Denver-Dallas-Stil östlich der Bahnhofanlage beim besten Willen nicht behauptet werden kann …
Mittwoch, 17. September 2008: Bahnhofanlagen von Mannenbach-Salenstein und Etzwilen. Im Bahnhofgebäude von Mannenbach, 1885 als provisorisches Güterstationsgebäude entworfen, 1919 aufgestockt und 1947 durch einen Wartsaal-Anbau erweitert, spiegelt sich auch die wechselvolle Geschichte der Seelinie. 1993, während der Diskussion um die Stilllegung der Linie, vom Abbruch bedroht, wurde das Haus 1994 im Baurecht an die Künstlerin Heidi Beerli verkauft, die es fachgerecht restaurierte. Ein Denkmal der Eisenbahngeschichte ist die Anlage des Knotenpunktes Etzwilen – einst Drehpunkt des gebauten und des erst geplanten Netzes der 1877 zusammengebrochenen Nationalbahn. Die einst immense Güterbahnhofanlage mit ihrem nun funktionslosen klein-städtischen Empfangsgebäude und einer typischen Bahnhofstrassenkulisse aus der vorletzten Jahrhundertwende erschien uns in der fahlen Herbstsonne wie die buchstäbliche „Endstation Sehnsucht“.
Mit Prosecco und Salzgebäck schlossen Verena Rothenbühler und Bettina Hedinger, die uns fachkundig und kurzweilig durch 150 Jahre Eisenbahngeschichte geführt hatten, ihren Zyklus. Wer mit dem Zug nach Hause fuhr, entfernte sich übrigens in modernsten Stadler-Rail-Leichtfahrzeugen von diesem leicht morbiden Mekka der Eisenbahnnostalgie.